Es gibt Touren, die stehen seit Jahren ganz oben auf der To Do Liste wegen ihrer Einzigartigkeit. Der Traccolino ist so eine Tour, hoch über der Piano di Chiavenna führt eine ehemalige Werksbahn der steilen Felsflanke entlang. Ich quartiere mich in Verceia (204m) am Lago di Mezzola ein. Am morgen früh wird der trockene Torrente überquert, welcher das Valle dei Ratti entwässert. Es scheint irgendein Warnsystem zu geben, denn wenn hier Wasser kommt, sollte man besser nicht in der Nähe stehen. Danach gilt es das Schild, welches den Tracciolino als vollständig gesperrt ausweist, ein erstes Mal zu ignorieren. Ein kleines Strässchen führt nun rund 700 Höhenmeter bergwärts.
Im unteren Teil ist die Strasse gut ausgebaut und abwechslungsreich. Oben wechselt es auf staubigen Schotter. Jemand verwirklicht sich wohl schon seit Jahren mit seinen Betonierungskünsten für den Wasserabfluss, kleine Stützmauern und die ausbetonierten Kurven. Etwas unschön, dass die Strasse gegen Bezahlung befahrbar ist. Im Frühling kein Problem aber im Ferragosto ist hier wohl Chaos angesagt. Bei Vico gibt es eine erste Aussicht auf die Chiavennaebene. Später queren wir die Materialbahn, welche das Valle dei Ratti und die Weiler Càsten und Frasnedo mit der Welt verbindet.
Im nirgendwo mündet die Strasse an der kleinen Eisenbahn. Ich erkunde erst die Strecke in Richtung Kraftwerk Moledana, Das Bikeverbotsschild wird respektiert, das Lebensgefahr-Schild ignoriert. Zu Fuss geht es den Geleisen entlang bis zu einem kleinen Tunnel und über die Staumauer. Die Kraftwerksmitarbeiter haben kein Problem mit meinem Besuch und überhaupt führt hier ebenfalls ein Wanderweg durch. Eindrücklich wie die Staumauer und die Bahn ins enge Tal gebaut wurden.
Zurück zum Start der eigentlichen Route. Erneut warnt eine Verbotstafel. Alle Absperrungen sind aber mehr oder weniger mutwillig entfernt und ich bin an diesem bewölkten Frühlingstag keineswegs der Einzige, der hier zu Fuss oder per Bike unterwegs ist. Ich tippe auf die italientypische Haftungsausschuss-Sperrung während den jahrelangen Bauarbeiten. Die Strecke verläuft auf der 910er Höhenkote und ist ab dem ersten Meter grandios. Zudem sichert ein massiver Zaun den ganzen Weg. Einzig an den rumpeligen Schotter und die Fahrt zwischen oder neben den Gleisen muss man sich erst gewöhnen.
Oberhalb von Campo Mezzola laufen die Schienen weiter. es geht weiter durch mehrere Tunnel, nunmehr ohne Schienen. Einige Tunnel verfügen über Beleuchtung, ohne Lampe wird man aber nicht durchkommen. Es folgt ein richtiger Abenteuerabschnitt durch zwei schroffe, verwitterte Täler. Unglaublich, was hier in den Fels gebaut wurde. Wenn keine grossen Felsblöcke den Weg versperren, ist der Trail gut fahrbar.
Die Ausblicke haben nun immer mehr Postkartencharakter. Unter mir das Dorf San Giorgio, welches sich auf einen flachen Teil eines Felssporns klammert. Der nächste Streckenabschnitt ins Vallone di Reverlaso zeigt den Grund für die Streckensperrung. An mehreren Orten musste wegen Felsstürzen oder Felssturzgefahr der Weg massiv gesichert werden. Hier wäre bei Bauarbeiten definitiv kein Durchkommen. Das gröbste scheint erledigt zu sein und die Abschrankungen sind zur Seite gelegt.
Nach der Überquerung eines Baches führt der Höhentrail weiter bis nach Cola und in das nächste Tal. Danach ist Schluss, obwohl ursprünglich der Tracciolino einige Kilometer weiter bis zur Wasserfassung im Val Codera führte. Leider sind einige Tunnel eingestürzt. Ich empfehle das Bike hier an einen Baum zu binden und zu Fuss weiterzugehen, da alles andere keinen Sinn macht. Zuerst geht es nach Cii. Ein Schild erzählt die Geschichte der letzten Bewohner. 1888 lebten hier 33 Personen, Ende 1990 zogen die letzten drei aus. Heute kümmert sich ein Verein um die rustikalen Steinhäuser.
Auf zwei architektonisch eindrucksvollen Steinbrücken überquert man die Schlucht und steigt kurz nach Codera auf. Auf 825m liegt hier ein ganzes Dorf und lebt in einer anderen Welt. Einzig eine Materialbahn und eine Maultierpfad verbinden den Ort (und das grosse Tal dahinter) mit der Aussenwelt. Unglaublich, wie wurden damals nur diese dreistöckigen Gebäude gebaut? Ein Einblick, wir vor noch nicht langer Zeit wohl hunderte Ortschaften im ganzen Alpenraum lebten. Codera dürfte eines der grösseren Dörfer der Region sein, das nicht per Auto erreichbar und ganzjährig bewohnt ist. Im La Locanda gibt es bei sichtlich zufriedenen jugendlichen Aussteigern etwas zu Essen und zu Trinken.
Auf dem Rückweg hat man eine gute Sicht auf den Treppentrail, der runter nach Novate Mezzola führt. Obwohl den einige Verrückte mit dem Bike befahren, dürfte das keinen Sinn machen (sogar Ride sagt das). Für eine Wanderung könnte man nochmals zurückkommen. Lustig mit welchem Abstand zum Dorf der Friedhof gebaut wurde. Die hohe Mauer soll wohl eher verhindern, dass die Toten nachts den Weg zurück ins Dorf finden. Den ganzen Weg wieder zurück, die fahrbaren Bereiche immer noch spassig. Nach dem langen Tunnel folge ich kurz den Geleisen bis zu den Druckrohren, welche hier runter in die Turbinen nach Campo Mezzola führen und der Grund für den Tracciolino sind.
Zurück am Ausgangspunkt wartet ein besonderer Leckerbissen. Statt das Strässchen führt ein Trail runter nach Verceia. Fahrbare Abschnitte durch lichte Kastanienterrassen lösen sich mit wenig fahrbaren Bereichen ab. Ich nutze die zahlreichen Absätze als Fahrtrainingsherausforderung. Beim Kiosk Kwatras am Lago di Mezzola lasse ich diese epische Tour auslaufen. Idealer Ort um die Eindrücke zu verarbeiten. Der Tracciolino wird seinem Ruf gerecht – eine MUST DO Tour mit ordentlichem Abenteuerfaktor. Interessant wäre eine Verlängerung ist Val Codera oder eine Hike&Bike Tour. Dafür braucht man dann vielleicht mehr als einen Tag.
Statistik 34.6 km, ca. 998 Höhenmeter, Fahrzeit 5:37 h