Mein Sohn ist einige Monate im Militärdienst und hatte über Neujahr ein paar Tage Urlaub. Die Gelegenheit für ein Männerwochenende. Wir machen die Wintervariante der bekannten Gemmi Wanderung von Leukerbad nach Kandersteg. Vor Jahren haben wir dasselbe im Sommer gemacht. Wir starten in aller Frühe mit dem 07:00 Uhr Zug in Solothurn und fahren via Bern und Lötschbergtunnel nach Leuk. Der Zug ist sowas von überfüllt und mir tun die Skifahrer mit ihrer Winterausrüstung leid, ist doch die Heizung im Zug voll aufgedreht.
In Leukerbad angekommen zünden wir die erste Stufe dieses Wochenendes: Sauna und Wellness in der Leukerbad-Therme. Da kommen bei uns Eltern- bzw Kindererinnerungen hoch. Bevor wir Grächen entdeckten waren wir zwei- oder drei Mal in Leukerbad in den Skiferien. Tiefenentspannt verlassen wir das Bad und suchen ein Restaurant für das Mittagessen. Schliesslich landen wir bei Bier und Pizza bzw. Rösti im Café La Bohème auf der mittlerweile sonnigen Terrasse. Die Gondelfahrt auf die Gemmi ist bei einer Hotelreservation gratis. Wir bewundern bei der Hochfahrt den verschneiten Gemmiweg. Leider sind wir noch zu früh, im Restaurant ist die Hölle los und beim Check-In sitzt der kleine Junge der Besitzerfamilie auf dem übergrossen Chefsessel und macht jedem Gast klar, dass hier nicht vor 16:00 Uhr eingecheckt wird. Schliesslich können wir ins Zimmer – mein Sohn nutzt die Zeit für ein Schläfchen und ich mache Panoramafotos in der Abendsonne.
Auf der Anhöhe neben der Gondelbahn befindet sich ein bekannter Platz für Birdspotter. Drei Fotografen in leichter Tarnkleidung und riesigen Teleobjektiven warten auf den König der Alpen, den Bartgeier. Heute Nachmittag hatten sie kein Glück und so packen sie zusammen und gehen auf die letzte Gondel ins Tal. Ich bleibe alleine und geniesse das fantastische Panorama. Plötzlich Aufregung bei den Bergdohlen und dann sehe ich ihn, tief unten im Tal, den Bartgeier. Wow, mein erstes Mal. Da freut man sich wie ein kleines Kind. Der unglaublich mächtige und elegante Vogel gleitet tief unter mir der Talflanke entlang und schraubt sich dann in der Thermik während rund 10 Minuten bis zu den Gipfeln der Plattenhörner hinauf.
Wahnsinn – was für ein Gefühl so etwas ganz alleine zu beobachten. Der Bartgeier wurde ja in den Alpen erst vor einigen Jahrzehnten wieder ausgesetzt und heute leben über 220 Tiere im Alpenraum – eine eigentliche Erfolgsstory.
Seit dem Jahr 2011 hat sich das Berghotel Wildstrubel kräftig gewandelt. Dem allgemeinen Trend folgend reicht die grandiose Berglandschaft nicht mehr um die Touristen anzuziehen. Entsprechend gibt es nun Fun Klettersteige und eine gläserne Aussichtsplattform mit freiem Blick auf Leukerbad. Dazu eine schön eingerichtete Innenterrasse mit grosser Glasfront. Immer noch gut ist das Abendmenü und auch die Zimmer (Komfortzimmer 196 CHF, Halbpension) sind schön heimelig eingerichtet. Fazit: Preis-Leistung sehr gut und das gilt auch für das Frühstücksbuffet am nächsten Morgen. Zudem schläft es sich in der Bergluft sowieso immer gut.
Nach dem gestrigen Plauschtag geht es heute an die Wanderung. Am frühen Morgen liegt der Daubensee kühl und tief verschneit vor uns. Der Winterwanderweg ist gut präpariert und gut begehbar. Mit militärischem Marschtempo geht Sohnemann voraus und ich hintennach. Wir sind die Einzigen, die so früh unterwegs sind. Am Ende des Sees schlängelt sich der Weg durch die Felsen und hinunter in Richtung Kanton Bern.
Gute Schuhe sind selbst bei diesen perfekten Verhältnissen von Vorteil. Man sucht die griffigen, harten Stellen um ohne grossen Kraftaufwand gehen zu können. Diese Passagen sind dafür bergab gerne mal etwas rutschig. Im Abstieg nach Sunnbühl weicht die Sonne den Schnee auf und bedaure die Wanderer aus der Gegenrichtung. In umgekehrter Richtung kann die Tour so rasch zu einer kleinen Herausforderung werden.
In der Ferne liegt das Hotel Schwarenbach, angeschmiegt an einen Geröllhaufen eines Bergsturzes. Das Haus wurde definitiv nicht nach touristischen Gesichtspunkten gebaut und tatsächlich dient es seit dem Jahr 1742 als Zwischenstopp – früher für den Warenverkehr und als Zollstation – heute für touristische Passgäste. Die Gemmi war seit jeher ein wichtiger Übergang ins Wallis, auch wenn man sich das heute fast nicht mehr vorstellen kann, wie damals die Waren transportiert wurden. Wir kriegen einen Kaffee und ein Stück Kuchen zum z’Nüni. Zwei Fatbiker kommen uns entgegen, Respekt, trotz breiten Reifen braucht das ziemlich Mukis um bis hier hochzufahren. Die Fatbikes lassen sich an der Bergstation Sunnbühl mieten – wäre mal was.
Sehr interessant ist übrigens der Grenzverlauf zwischen dem Kanton Wallis und dem Kanton Bern, welcher ausnahmsweise nicht auf der Wasserscheide, sondern tief auf ‚Berner Seite‘ über die Spittelmatte verläuft. Der Grenzverlauf war über Jahrhunderte ein Streitpunkt, wurde erst 2014 beigelegt und ist eine interessante Anekdote im Verhältnis der beiden Kantone. Wer Zeit hat, dem empfehle ich das Geschichtsbuch zur Gemmi, welches im Hotel Schwarenbach aufliegt.
Rechtzeitig zum Mittagessen sind wir im Restaurant Sunnbühl und geniessen die letzten warmen Sonnenstrahlen bevor die Schlechtwetterfront über die Berge zieht. Mit der Seilbahn geht es runter nach Kandersteg und zu Fuss hinüber ins Hotel Doldenhorn, wo am Abend meine Frau und meine Tocher mit Freund für ein spontanes Deluxe Familienfest mit Gourmetmenü und Wellness zu uns stossen. Ein perfekter, wenn auch nicht zwingend nötiger Abschluss dieser Wintertour über den Gemmipass.
PS: Das war das einzige Schneeerlebnis dieses schneelosen Winters 2020.